Informationen für Interviewer*innen

a)     Auswahl und Beziehung der Zeug*innen zur*/zum Interviewer*in

Personen sollten nur dann als Zeug*innen ausgewählt werden, wenn sie eine ausgeprägte psychische Gesundheit und Belastbarkeit besitzen, da das Nacherzählen sensibler Erlebnisse sehr traumatisch sein kann. Seien Sie in diesem Sinne versichert, dass Sie Zeug*innen Pausen einräumen oder das Interview beenden, falls Anzeichen von Stress erkennbar werden. Seien Sie sich ferner bewusst, dass Zeug*innen Informationen an Sie weitergeben können, die sie überraschend oder aus dem Konzept bringen könnten.

Da Erzählungen von Menschenrechtsverletzungen emotional überwältigend seien können, und auch für Sie als Interviewer*in ein traumatisches Erlebnis auslösen könnten, ist es wichtig zu überlegen, wer ein geeigneter Kandidat sein könnte, um Aussagen zu erfassen. Bevor Sie sich entscheiden die Aussage aufzunehmen, ist es daher wichtig, darüber nachzudenken, ob Sie ausreichend vorbereitet sind, sich potenziell traumatische Geschichten anzuhören und damit umzugehen. Im besten Fall, hat die*/er Interviewer*in ein praktisches Training im Interviewen absolviert und/ oder Erfahrungen im Umgang mit Menschen, die traumatische Ereignisse erlebt haben.

b)    Datenschutz

Wenn die*/der Zeug*in anonym bleiben möchte, werden alle angegebenen Daten mit einem Pseudonym versehen. Die Initialen der*/des Zeug*in in der rechten oberen Ecke auf der ersten Seite des „FORMULAR ZUR ERFASSUNG VON ZEUGENAUSSGAEN“ sollten dementsprechend angepasst werden. Die gesammelten Aussagen werden in einer sicheren Datenbank gespeichert, auf die nur eine begrenzte Anzahl von Personen Zugriff hat.

c)     Interviewmethodik

Aussagen sollten am besten durch persönliche Interviews gesammelt werden. Die Interviews können entsprechend den im „FORMULAR ZUR ERFASSUNG VON ZEUGENAUSSGAEN“ gestellten Fragen strukturiert werden und sollten sich auf die im Dokument angegebenen Kategorien der Menschenrechtsverletzungen fokussieren. Die Idee besteht darin, das Gespräch auf das/die relevante/n Thema/tiken zu lenken und gleichzeitig den Zeug*innen genug Raum zu geben, den Inhalt der Diskussion zu definieren.

Es wird nicht empfohlen, eine Aussage virtuell oder per Telefon zu erfassen. Wenn es vom der*/dem Zeug*in gewünscht wird und der Fall von besonderem Interesse ist, sollte es als Alternative in Betracht gezogen werden. Sie müssen sich jedoch der verschiedenen zusätzlichen Herausforderungen bewusst sein, mit denen Sie möglicherweise konfrontiert sehen (unzureichende Internetverbindung, schlechter Empfang, ethische Anforderungen im digitalen Kontext usw.).

d)    Tipps für die Befragung

Beginnen Sie nicht sofort mit der Befragung

  • Beginnen Sie mit einer freundlichen Begrüßung und stellen Sie sich und das Projekt vor.
  • Erzählen Sie ihnen von Ihrer Rolle im Projekt.
  • Erklären Sie, dass Sie etwas über die Person und ihre Situation erfahren möchten: Sie möchten so viel von ihrer Geschichte hören, wie sie bereit sind zu teilen.

Erklären Sie außerdem vor Beginn des Interviews:

  • Was eine Aussage umfasst, auf welche Art und Weise die Aussage erfasst wird und wofür sie verwendet wird.
  • Dass die persönlichen Daten der*/des Zeug*in anonymisiert werden, wenn dies erwünscht ist.
  • Wenn es etwas gibt, worüber die*/der Zeug*in nicht sprechen möchte, erklären Sie, dass keine Erwartung besteht Informationen weitergeben, die sie nicht preisgeben möchten.
  • Zeug*innen haben das Recht, während des Interviews eine Pause einzulegen oder das Interview abzubrechen. Sie haben das Recht, den Wunsch zu äußern, bestimmte Informationen, die zuvor mitgeteilt wurden, von der Aussage auszuschließen. Informieren Sie die*/den Zeug*in zu Beginn über ihre*/seine Rechte.

 

Drücken Sie Interesse aus, an dem was die*/der Zeug*in erzählt und hören Sie aufmerksam zu.

  • Fördern Sie die Entwicklung des Interviews zu einem freundlichen Gespräch.
  • Vermeiden Sie einen strikten Frage-Antwort-Austausch.
  • Bleiben Sie neutral: Genehmigen oder missbilligen Sie Aussagen nicht.

Ermutigen Sie die*/den Zeug*in, ihre*/seine Antworten weiter auszuführen.

  • Verwenden Sie Wörter wie „beschreiben Sie mir…,“ oder „erzählen Sie mir von…“.
  • Gehen Sie erst dann zu einem neuen Thema über, wenn Sie das Gefühl haben, dass die befragte Person alles gesagt hat, was sie mitteilen möchte. Dabei sollten Sie darauf, das Wohlergehen der*/des Zeug*in zu respektieren.
  • Lassen Sie die Antworten der*/des Zeug*in die Richtung des Interviews bestimmen, allerdings sollte das Gesprochene in Bezug zu Menschenrechtsverletzungen im Bereich Gesundheit stehen.

Spiegeln Sie die Sprechweise und das Vokabular der*/des Zeug*in, wenn angebracht.

  • Machen Sie sich mit der Sprechweise und dem Wortschatz der*/des Zeug*in vertraut. Wenn Sie es für angebracht halten, können Sie die Sprache und den Tonfall der*/des Zeug*in spiegeln, um ihr*/ihn während des gesamten Interviews zu ermutigen.

 

Lernen Sie, Fragen neu zu formulieren/umzudenken

  • Seien Sie darauf vorbereitet, Synonyme oder einfache Formulierungen für kompliziertere oder mehrdeutige Begriffe zu verwenden.
  • Überlegen Sie sich 1-2 alternative Möglichkeiten, um die gleiche Frage zu stellen und damit sicherzustellen, dass die*/der Zeug*in sie versteht.
  • Offene Fragen können Ihnen helfen, das Interview flexibel zu strukturieren und die erforderlichen Informationen zu erfassen.
  • Die Verwendung von „warum…“ impliziert, dass es eine sachliche Antwort gibt. Die befragten Personen können so versuchen, Ihnen eine „richtige“ Antwort zu geben. Stattdessen können Sie Interrogative verwenden, die zu einer deskriptiven Antwort ermutigen, z.B. „Was geschah zu dieser Zeit?
  • Stellen Sie nicht zu viele Fragen; das Interview sollte kein Verhör sein. Wenn es den Anschein hat, dass der Zeuge*die Zeugin bestimmte Fragen vermeidet, drängen Sie sie*/ihn nicht dazu, zu antworten.

Lassen Sie sich Zeit

  • Stressen Sie weder Ihre*/ihren Gesprächspartner*in noch sich selbst. Geben Sie sich und der*/dem Zeug*in Zeit, über Fragen und Antworten nachzudenken. Ein überstürztes Interview kann unnötigen Stress verursachen und zu schlechten Ergebnissen führen, die Folgeinterviews erfordern.

 

Nach der Befragung ist es wichtig, die Bestätigung der*/des Zeug*in einzuholen die geteilten Informationen im Rahmen des Tribunals weiterzugeben. 

 

  • Füllen Sie bitte am Ende des Interviews das Blatt „Einverständniserklärung“ aus, das Teil des Dokuments „FORMULAR ZUR ERFASSUNG VON ZEUG*INNENAUSSGAEN“ ist, und achten Sie darauf, alle relevanten Unterschriften zu sammeln.
  • Das Blatt “ Einverständniserklärung“ sollte sowohl vom Interviewer als auch von der*/ von dem Zeug*in unterschrieben werden. Falls die*/der Befragte anonym bleiben möchte, kann die*/der Interviewer*in auch allein unterschreiben. Wenn ein*e Dolmetscher*in benötigt wird, sollte sie*/er das Formular ebenfalls unterschreiben.

 

e) Sorgfaltspflicht und Schutz der befragten Person

Wenn es für die befragte Person relevant ist und Sie dafür qualifiziert sind, können Sie die*/den Zeug*in angemessen über ihre*/seine Rechte und den Zugang zu Dienstleistungen informieren. Wenn jedoch während des Interviews Fragen zu den folgenden Themen auftauchen und es normalerweise nicht Ihre Aufgabe ist, in solchen Fällen Beratung anzubieten, besprechen Sie das Anliegen bitte mit einem Mitglied Ihrer Organisation oder Ihres Kollektivs:

  • Sicherung der Fragen.
  • Vermutung, dass die*/der Zeug*in Menschenhandel oder moderne Sklaverei erfahren hat.
  • Vermutung, dass die*/der Zeug*in unter ausbeuterischen Bedingungen arbeitet.
  • Vermutung, dass die*/der Zeug*in Gewalt oder Missbrauch erlebt.
  • Vermutung, dass die*/der Zeug*in Schwierigkeiten beim Zugang zum Gesundheitswesen hat.
  • Die*/der Zeug*in bittet um Hilfe bei der Unterbringung / Einwanderung.

 

f) Persönliche Sicherheit

Abgesehen von der Sicherheit der*/des Befragten ist es wichtig, dass Sie sich als Interviewer*in sicher und wohl fühlen. Falls Sie um Ihre eigene Sicherheit besorgt sind, z.B. wenn das Verhalten der*/des Zeug*in in Ihnen Unsicherheit hervorruft, beenden Sie das Interview, verlassen Sie gegebenenfalls den Ort des Interviews und suchen Sie sich ggf. psychologische Unterstützung. Wenn Sie die Befragung stellvertretend für ein Kollektiv oder eine Organisation durchführen, sollten Sie in Erwägung ziehen, sich auf eine Person innerhalb Ihrer Gruppe zu einigen, die für die psychologische Unterstützung und Beratung bei solchen Vorfällen zuständig ist. Ferner sollten Sie vor der Durchführung des Interviews den Ort der Befragung evaluieren, um ein Maximum an Komfort und Sicherheit für Sie und der*/den Zeug*in zu gewährleisten.