Gesundheitsversorgung in Moria

Leave no one behind! Die EU entzieht sich ihrer Verantwortung

Ein Beitrag von Charlotte Linke und Jessica Horst, zwei Ärztinnen, die aktuell für eine NGO in Moria (Lesbos) arbeiten.
Erschienen im Forum Magazin der IPPNW e.V., Juniausgabe 2020

Dicht gedrängte Zelte, fehlende Sanitäranlagen, ausfallende Wasser- und Stromversorgung und sexualisierte Gewalt sind nur einige der Dinge, die zum Alltag in Moria gehören. Die Ärtz*innen Charlotte Linke und Jessica Horst berichten und erzählen wie die Covid-19 Pandemie die Situation beeinflusst.

Zur Zeit leben mehr als 20.000 Menschen in Moria auf
Lesbos, einem Camp mit einer ursprünglichen Aufnahmekapazität
von 3.100 Menschen. Die Geflüchteten werden
im Rahmen der europäischen Abschottungspolitik auf
den griechischen Inseln festgehalten. So soll es der EU-Türkei-
Deal von 2016 ermöglichen, alle „irregulär“ ankommenden Geflüchteten,
die kein Asyl beantragen oder deren Antrag abgelehnt
wird, in die Türkei abzuschieben. Weiterhin verbietet der Deal Geflüchteten
die Inseln zu verlassen, bis über ihren Asylantrag entschieden
wurde, was Jahre dauern kann.

Die Lebensbedingungen in Moria werden von Geflüchteten selbst als höchst unmenschlich und erniedrigend beschrieben.
Trotz jahrelanger Kritik von NGOs und der griechischen Bevölkerung
hat sich die Situation zunehmend verschlechtert. Zur Unterbringung
stehen oft nur dicht gedrängte Zelt zu Verfügung, es fehlt an
sanitären Anlagen, die Wasser- und Stromversorgung funktioniert
meist nur stundenweise, für Essen und Trinkwasser muss mehrmals
täglich stundenlang angestanden werden. Es kommt immer
wieder zu gewaltsamen Auseinandersetzungen und sexualisierter
Gewalt. All dies führt nicht nur zu Haut-, Durchfall-, und Atemwegserkrankungen,
die meisten Menschen leiden insbesondere
psychisch unter der Situation.

Viele haben schon im Herkunftsland
und auf der Flucht Krieg, Folter oder andere Gewalt erlitten,
und werden durch die andauernde existentielle Unsicherheit, die
Polizeipräsenz, die Gewalt in Moria weiter traumatisiert.
Die Covid-19-Pandemie und die damit verbundenen Maßnahmen
haben all dies nochmal verschärft. Einerseits sind
(auch durch die faschistischen Übergriffe im März) viele Unterstützungsstrukturen
zusammengebrochen, andererseits dürfen
die Menschen das Camp nur noch in Ausnahmefällen verlassen.
Dadurch nimmt die Anspannung im Camp spürbar zu.
Die Gesundheitsversorgung der Menschen in Moria war schon
vor Beginn der Pandemie prekär. Sie wird zu großen Teilen von
NGOs übernommen, mit eingeschränkten Möglichkeiten zur
Überweisung an Einrichtungen des griechischen Gesundheitssystems.
Seit dem Lockdown – der Schließung des Camps aufgrund
des Coronavirus – fallen die ohnehin schlechten Möglichkeiten zu
Blutuntersuchungen, bildgebender Diagnostik und fachärztlichen
Konsultationen weg bzw. sind nur noch in Notfällen möglich. Da
die Räumlichkeiten und personellen Kapazitäten der medizinischen
Strukturen in Moria nicht dem Versorgungsbedarf entsprechen, ergeben
sich für die Patient*innen stundenlange Wartezeiten und viele
von ihnen werden am Ende nicht ärztlich gesehen. Außerdem ist
es erschreckend, wie viel Leid und Krankheit durch die Lebensbedingungen
und die anhaltende Ungewissheit in Moria bedingt sind.
Bisher gab es auf Lesbos nur wenige Fälle von Covid-19.
Während die Ausgangssperren für Griech*innen langsam
gelockert werden, dürfen die Geflüchteten das Camp weiterhin
nicht verlassen. Maßnahmen zur Erkennung und Vorbereitung
auf einen Ausbruch, wie die Einführung einer zentralen Triage (in
der systematisch nach Symptomen von Covid-19 gescreent wird)
und der Einrichtung von Isolationsmöglichkeiten, wurden zwar mit
einiger Verspätung getroffen, erscheinen aber in Angesicht der
Enge und hygienischen Zustände des Camps völlig unzureichend.
Sobald es den ersten Fall im Camp gibt, wird ein Ausbruch nicht
mehr zu verhindern sein.

Wenn in der EU Menschenrechte tatsächlich für alle gelten würden,
wäre Moria schon längst evakuiert worden. Statt dessen entzieht
sich die EU der Verantwortung, Abschreckung und Grenzsicherung
werden über Menschenleben gestellt. Spätestens jetzt,
mit der Bedrohung durch die Covid-19-Pandemie, ist die Auflösung
des Camps die einzig sinnvolle Maßnahme zum Schutz der
Menschen.

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